„Selbst bei Laubbläser, Traktoren oder Luftballons bleiben die Pferde von XY vollkommen cool. Wie auch Ihr Pferd in jeder Situation so gelassen bleibt, erfahren Sie auf…“, las ich gerade auf Facebook. Werbung für eine Veranstaltung, die absolut nicht schlecht sein muss. Aber: Ich habe über „in jeder Situation gelassen“ nachgedacht und finde, dass das ziemlich viel verlangt ist für ein lebendiges Wesen. Ich möchte kurz analysieren, warum ich „Gelassenheitstraining“ unter Umständen kritisch sehe. Gelassenheitstraining Oft geht es beim „Gelassenheitstraining“ darum, das Pferd dazu zu bringen, Dinge auszuhalten, die es eigentlich nicht mag, vor denen es Angst hat oder die ihm unangenehm sind. Man nennt das auch „Desensibilisierung“: Der unangenehme Reiz bleibt so lange bestehen, bis das Pferd nicht mehr flüchtet, sondern sich im zuwendet oder stehen bleibt und ihn „erträgt“. Das kann nützlich sein: Um das Pferd an Equipment zu gewöhnen zum Beispiel. Man kann sehr geduldig und sehr freundlich desensibilisieren oder sehr sehr mies. Aber: Nur weil ein Pferd lernt, etwas zu ertragen, heißt das noch nicht, dass es gelassen ist! Ich hatte bei Pulsmessungen bei scheinbar sehr coolen Pferden schon Werte von über 150 Schlägen/Minute. Ruhig dastehen hei´ßt nicht unbedingt auch gelassen sein! Stellen wir uns vor, Sie haben Angst vor Spinnen. Die Spinne tut Ihnen genauso wenig wie das Fliegenspray dem Pferd. Sie beißt nicht, sie sprüht Sie im Gegensatz zum Spray nicht mal nass. Jetzt stellen Sie sich vor, jemand hält Sie fest und setzt Ihnen eine Spinne auf die Schulter. Sie schreien und zappeln was das Zeug hält, können das Tierchen aber weder entfernen noch weglaufen. Irgendwann bleiben Sie stehen und ergeben sich Ihrem Schicksal, aber wahrscheinlich klopft das Herz Ihnen bis zum Hals – und die Spinne ist Ihnen deshalb nicht sympathischer. Wen Sie aber wahrscheinlich echt fies finden, ist der Mensch, der Ihnen das angetan hat, oder? Besonders wenn er Ihnen die Spinne täglich auf die Schulter setzt. Sie haben gelernt, dass Schreien nichts bringt, verspannen sich nur kurz und ertragen. Sie ergeben sich Ihrem Schicksal. So ähnlich läuft „Desensibilisieren“ bei einigen Pferdetrainern ab und Sie merken, dass ich dem nicht viel abgewinnen kann. Wenn ein Pferd z.B. Fliegenspray so richtig doof findet, dann sprühe ich das Zeug eben auf einen Schwamm und trage es vorsichtig aufs Pferdefell auf. Neugier statt Druck Hat ein Pferd Angst vor Plastikplanen, Mülltonnen und Co., setze ich auf Gewöhnung und die Neugier des Pferdes. Wenn ich am Reitplatz z.B. Luftballons anbinde und das Pferd daran schnuppern lasse, wenn es mag, habe ich kein Vertrauensverhältnis aufs Spiel gesetzt und das Pferd ermutigt, die Welt zu entdecken und sich auf mich zu verlassen („Die geht dahin, ich kann in Ruhe dran schnuppern ohne gefressen zu werden, dann wird das ok sein.“). Aufs Spinnenbeispiel bezogen: Meine Tochter hat im Kindergarten gehört, Spinnen seien "Igittbäh". Ich zeige ihr eine sehr schöne Spinne, wir beobachten sie eine Weile gemeinsam und irgendwann findet meine Tochter sie gar nicht mehr so igitt...;-) Ich finde es toll, wenn man für sein Pferd „Gelassenheitsparcours“ aufbaut – wenn man dem Pferd darin absolut keinen Druck macht, sondern es viel lobt und ihm einfach Zeit lässt, die Angst der Neugier weichen zu lassen. Eventuell kann man auch ein wirklich gelassenes älteres Pferd dazu nehmen. Toll ist auch, einfach häufig ins Gelände gehen. Bereits bei sehr jungen Pferden sind Spaziergänge mit älterem Begleitpferd sehr hilfreich. Potentiell gruselige oder unangenehme Dinge besetze ich gern positiv. Das ist überhaupt nicht modern, sondern ziemlich klassisch: Junge Pferde wurden früher beim ersten Satteln oder dem ersten Aufsitzen des Reiters mit Futter belohnt. Etwas, was Pferde naturgemäß gefährlich finden (Lebewesen auf dem Rücken!), wird zu etwas Angenehmem (Es gibt Essen!). Lebendig statt Versteinert So, jetzt schwimme ich mal (wieder) gegen den Strom: Ich verlange von keinem Pferd, dass es in jeder Situation gelassen ist (bzw. gelassen scheint, innerlich aber angespannt ist). Ich bin auch nicht in jeder Situation gelassen. Wenn neben mir ein Luftballon platzt oder eine Maus am Boden entlang huscht, schreie ich erschrocken auf. Und bestimmt fallen Ihnen Situationen ein, in denen Sie garantiert nicht gelassen sind. Pferde sind Lebewesen. Sie „glotzen“, sie springen mal zur Seite und sie werden vielleicht mal kurz schneller. Wer sich nicht sicher genug fühlt, solche normalen Reaktionen zu händeln, sollte Reitunterricht nehmen (das ist überhaupt keine Schande, tun auch "Profis" ;-)) und Vertrauen in seinen Sitz entwickeln, erstmal ältere, gelassene Pferde reiten und sich vielleicht nicht dazu entscheiden, ein Jungpferd oder bekanntermaßen schreckhaftes Pferd zu kaufen. Wer das akzeptiert und, ganz wichtig, einigermaßen sattelfest ist und fair mit seinem Pferd arbeitet, wird ein vertrauenerweckender Partner für sein Pferd. Beobachten Sie mal die Videos von z.B. Ingrid Klimke. Sie reitet sehr lebendige, junge Sportpferde. In einem Video (siehe pferdiathek) wird gerade an der neuen Halle gebaut und ihr Berittpferd Just Paul scheut unter ihr. Sie gibt die Zügel vor, redet ermutigend mit ihm und reitet in aller Ruhe auf dem Zirkel, der am weitesten von der Baustelle weg ist. Sie „macht kein Fass auf“, reitet aber konsequent weiter die von ihr angedachte Linie und beschäftigt ihr Pferd mit Übergängen. Irgendwann ist Paul so auf sie konzentriert, dass er auch auf dem gegenüberliegenden Zirkel gelassener geht. Ein weniger routinietes „Lieschen Müller“ hätte in der Situation vielleicht so reagiert: Scharfes Einatmen, Zügel annehmen, vor Schreck vergessen, auf welche Linie man das Pferd schicken sollte oder übertrieben konsequent auf die „Gefahr“ zureiten und das Pferd dabei möglicherweise unsanft treiben bis mit der Gerte schlagen. Durch genau solche Erfahrungen lernen Pferde aber das Erschrecken vor dem Erschrecken und das Problem verschärft sich. Ich vermute, weil das vielen Reitern so geht, ist der Wunsch nach dem "allzeit coolen Pferd" auch so groß...
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April 2020
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